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Esther Hauser war Ende 2019 für sieben Wochen auf Lesbos im Flüchtlingscamp Moria. In dieser Zeit stieg die Zahl der Neuankömmlinge täglich und das bereits überfüllte Camp wuchs immer weiter. Esther erzählt uns, was sie im Camp erlebte und wie sie den Menschen Tag für Tag begegnete.

Ich habe schon länger den Wunsch, Menschen Hilfe und Hoffnung zu bringen und ich wollte herausfinden, ob die Flüchtlingsarbeit für die Zukunft etwas für mich wäre. Zudem bin ich neugierig und abenteuerlustig und wollte mal live sehen, wie das so zu und her geht in einem Camp.

Als ich ankam, waren ca. 16’000 Flüchtlinge im Camp, aber jeden Tag kamen neue Menschen mit dem Bus im Camp an. Als ich abreiste, waren es 19’000. Transfers auf das Festland fanden nur wenige statt in dieser Zeit. Und somit füllte sich das Camp und die angrenzenden Olivenhaine von Tag zu Tag mehr.

Vor allem morgens war auf der Hauptstrasse im Camp fast kein Durchkommen mehr. Sobald die Kinder mich mit der roten EuroRelief Leuchtweste sahen, kamen sie rufend «my friend, my friend» angerannt, schlangen sich um meine Beine, hielten meine Hand und wollten auf den Arm genommen werden. Die Erwachsenen, auch «my friend» oder «hey, EuroRelief» rufend, hatten allerlei Fragen oder Anliegen mitzuteilen. Auf der Hauptstrasse im Camp vergrösserte sich der Früchte- und Gemüsemarkt von Tag zu Tag und es wurden fleissig Holzkonstruktionen gebaut, in denen kleine Shops oder Essensstände betrieben wurden. Ich habe in meinem Leben keinen besseren und günstigeren Falafel gegessen als in Moria!

Jeden Morgen begannen wir den Arbeitstag mit einem Briefing und einem kleinen Input. Danach wurden die Arbeiten verteilt. Mir war wichtig, jeden Tag etwas anderes zu machen, um in alle Bereiche rein zu sehen und keine Routine zu entwickeln. So war ich immer wieder im Warenlager und machte Kleider-Päckchen für die New Arrivals (Neuankömmlinge), gab tausende von Windeln aus, machte unzählige Kopien von Ausweisen, verteilte Tickets, damit die Frauen und Kinder eine warme Dusche nehmen konnten, machte Housing, Mapping, war im New Arrival- und Frauenbereich eingeteilt.

Aber egal wo ich arbeitete, immer kam ich in Kontakt mit den teils schrecklichen Lebens- und Fluchtgeschichten der Flüchtlinge. Sah täglich die unmenschlichen Lebensbedingungen im Camp, erlebte selbst den alles durchnässenden Regen und die Kälte.

Die grösste Herausforderung aber war, dass ich das Gefühl hatte, nicht viel machen zu können gegen dieses grosse Leid. Meistens musste ich nein sagen, wenn die Menschen mich um etwas baten, weil wir als Organisation schlicht nicht genug davon hatten. Ich musste mich immer wieder fokussieren auf das, was ich eben tun konnte: Menschen ehrlich zu hören, Verständnis und Anteilnahme zeigen, in ihre Sprache übersetzen, mir Zeit nehmen und zum Tee trinken bleiben. Und wenn ich an meine Grenzen kam, was täglich geschah, musste ich mit all den Menschen und Situationen zu Jesus rennen und sie bei ihm abladen. Das half mir enorm, dass ich nicht zerbrach. Ich tat meinen, sehr beschränkten Teil, und Jesus muss seinen Teil tun, sich um die Menschen zu kümmern. Das zu wissen half mir, die Zeit besser zu ertragen. 

Ja, es war eine intensive, traurige, schmerzhafte Zeit, die nachhallt in meinen Gedanken und  Gefühlen. Ich brauche Zeit fürs Verarbeiten. Aber ich bin auch sehr dankbar für alles, was ich sehen und erleben durfte. Und für Menschlichkeit, Liebe und Hoffnung, die es auch in Moria gibt.